Freitag, 10. Februar 2012

Die 30-Stunden-Woche als politisches Projekt

Beim Projekt einer weitreichenden Verkürzung der Arbeitszeit und ihrer Umverteilung auf alle Arbeitssuchenden handelt es sich um den Einstieg in eine Umorganisation der gesellschaftlichen Arbeit - mit weitreichenden Folgen für die Organisation der sozialen und stofflichen Reproduktion der Gesellschaften. Ein solches Projekt zielt auf die unmittelbare Aneignung der Ergebnisse der Produktivitätssteigerung der kapitalistisch organisierten Arbeit - nicht durch zusätzlichen Konsum, sondern in Form von mehr frei verfügbarer Zeit. Außerdem verbindet es damit die unmittelbare Beseitigung von Arbeitslosigkeit und der begleitenden Armut, sowie der aus beidem folgenden Desorientierung und Ohnmacht der arbeitenden Klassen.
Damit sollen die wichtigsten Hebelwirkungen der ökonomischen Herrschaft des Kapitals über die Arbeitenden vermittels des Eigentumsmonopols, die Konkurrenz der Lohnarbeiter und daraus folgend die unbegrenzte Verfügung über deren Arbeitszeit und Mehrarbeit, drastisch begrenzt werden. Eine solche erfolgreiche politische Veränderung der Organisation der gesellschaftlichen Arbeit und Reproduktion sollte dazu führen, den Auflagepunkt des Hebels selber - das Monopol des Eigentums – in Frage zu stellen. Praktisch gewendet würde damit der blinden, von der Verwertung der Einzelkapitale abhängigen privaten Organisierung der gesellschaftlichen Arbeit, der Produktion und sozialen Reproduktion ein Ende gesetzt.
Ein neuer Standard eines Normalarbeitsverhältnisses mit 6-Stundentag und 30-Stundenwoche, auf Basis eines neuen gesicherten Normalarbeitsvertrages - wäre das nicht ein erneuerter Sieg der politischen Ökonomie der arbeitenden Klassen und der Beginn des Sieges gesellschaftlicher Vernunft? (vergl. K. Marx, Inauguraladresse der IAA, MEW 16, S.11)

Überblick

Im Folgenden werden unter vier Gesichtspunkten die notwendigen Einzelheiten vorgestellt, die bei der Ausarbeitung eines politischen Projektes der Arbeitszeitverkürzung vorrangig berücksichtigt werden müssen:
I  Aspekte der Arbeitslosigkeit
II  Theoretische Überlegungen: Lohnarbeitskräfte im Kapitalismus: Nachfrage und Angebot
III  Die strategischen Überlegungen
IV  Politisch-praktische Überlegungen

I  Ökonomische, politische und soziale Aspekte 

In der Debatte zur Arbeitszeitverkürzung werden u. a. die folgenden Aspekte diskutiert:

Ursachen der Arbeitslosigkeit

Die seit 1975 in der BRD zunehmende Arbeitslosigkeit hat systemische und historische Gründe: Überakkumulation, Rückgang der Raten des Wachstums der Industrieproduktion in den entwickelten Ländern, Produktivitätssteigerungen durch die Einführung neuer Produktivkräfte; Anfang der 70er Auflösung des Weltwährungsregimes von Bretton Woods und seit den 80ern ein erneuertes neoliberales Wirtschaftsregime mit der Folge einer politischen und ökonomischen Schwächung der Gewerkschaften. Zunehmende, auch übernationale Finanzialisierung der Kapitalverwertung und zunehmende Einbeziehung von Drittweltländern in die Investitions- und Verwertungsregime der Weltkonzerne – eine neue Etappe der Internationalisierung.

Politisch geförderte Rückwirkungen

Das Ergebnis war eine sukzessive ökonomische Auflösung des „Normalarbeitsverhältnisses“ von seinen Rändern und von unten her, nicht nur in der BRD, und die massive politische Förderung dieser Prozesse:
Unzureichende Löhne, erzwungene Teilzeit-Beschäftigungen, befristete Verträge, Leiharbeit mit Dumping-Löhnen, verbreiteter Zwang zu Überstunden, oft unbezahlt, Verdichtung der Arbeitstätigkeiten durch Reduzierung der Belegschaften.
Übernahme und Verschärfung des neoliberalen Kurses gegen die Lohnarbeiter von Rot-Grün durch die Schröder-Regierung.

Vergeudung durch Ausgrenzung

Die Nicht-Beschäftigung von Millionen potentieller Arbeitskräfte ist eine Vergeudung gesellschaftlicher Produktivkraft. Gleichzeitig wird damit ein sonst überflüssiger gesellschaftlicher Aufwand erforderlich - die Finanzierung des Unterhalts der arbeitslosen Mitbürger, ob aus den Beiträgen für die Kasse oder aus staatlichen Haushalten.
Das wird dann zum willkommenen Vorwand genommen, um die Arbeitslosen demagogisch aus gesellschaftlichen Opfern der Kapitalverhältnisse zu Schuldigen ihrer Lage und für diese Ausgaben zu machen:
Kürzungen der Ausgaben und Kujonierungen der Arbeitslosen werden daher auch von Teilen der Lohnarbeiter befürwortet – das Ergebnis ist eine mentale und politische Spaltung der Lohnarbeiterschaft.

Die Erosion der Lebensverhältnisse

-          Arbeitslosigkeit ist, besonders unter den Bedingungen der Hartz-IV Regelungen, für die Betroffenen und ihre soziale Umgebung belastend bis unerträglich.
-          Bei dürftigem Wachstum oder Krise von Industrie und Dienstleistungen grassiert die Angst vor Entlassung, vor der Schuriegelung durch das Hartz-IV-Regime, vor Verlust von Erspartem.
-          Diese Angst zehrt die Bereitschaft zur Gegenwehr der Lohnabhängigen in Betrieben und bei Tarifauseinandersetzungen aus.
-          Sie zersetzt sowohl ihre soziale Integration, wie auch ihre durch Arbeit vermittelte Identität – mit dramatisch negativen Folgen für Gesundheit und Lebensführung, sowie für die Betreuung und Sozialisierung der Kinder.
-          Druck und Stress entstehen, abgestuft aber zunehmend, zunächst in Betrieben und sekundär in Familien. Die Sicherheit der ökonomischen Basis des Lebens für Lohnabhängige verschwindet, mit der Möglichkeit des Entzuges dieser Basis selber.
-          Überarbeitung und Leistungsdruck erzeugen eine Zunahme psychischer Überlastungen und entsprechender Krankheiten, nicht nur in profitorientierten Unternehmen sondern auch in spargeschrumpften sozialen Diensten.

Interessen und Perspektiven

Das objektive Interesse von lohnabhängig Arbeitenden und Arbeitslosen besteht also in einer Verkürzung der Arbeitszeit und ihrer Umverteilung auf alle.
·         für die Einen: Abbau von Überstunden und Stress, Sicherung der Arbeitsverträge, Aufstockung erzwungener Kurzarbeit, Wieder-Durchsetzung von existenzsichernden Löhnen und Befreiung von der Angst vor der Zukunft; Abbau der Konkurrenz um die Arbeitplätze;
·         für die Anderen: heraus aus der Arbeits- und Erwerbslosigkeit, der Ärmlichkeit und entwürdigenden Abhängigkeit vom Hartz-IV-Regime und Wieder-Gewinnung von Selbständigkeit, Beseitigung der Nötigung sich unter Wert gegen Beschäftigte und andere Arbeitslose in Stellung bringen zu lassen, weg vom Medienpranger als nutzlose Kostgänger der Gesellschaft.
·         Für Frauen und Männer mit oder ohne Kinder oder Partner: Die traditionellen oder ökonomisch erzwungenen und politisch geförderten Arbeitsteilungen zwischen Männern und Frauen innerhalb der Lohnarbeit, zwischen dieser, privatem Haushalt und Familie sind inzwischen grundlegend dysfunktional und nicht länger akzeptabel. Für die meisten Frauen zu kurze Arbeitszeiten mit zu wenig Verdienst, um ein selbständiges Leben auch mit Kindern führen zu können, für Männer zu kurze oder zu lange Arbeitszeiten, für einen zunehmenden Teil mit zu wenig Lohn, um mit Frauen und mit Kindern in verständiger Arbeitsteilung Haushalt und Kinderbetreuung abwickeln und noch leben zu können. Ausgrenzung und Diskriminierung hier und Überlastung dort treffen vorrangig Frauen und dadurch auch die Kinder.
Das objektive Interesse nicht nur der Frauen liegt in der kurzen Vollzeit (mit „Voll“verdienst und sicherem Arbeitsvertrag). Damit entstünde eine eigene ökonomisch-finanzielle Basis und eine soziale, wie zeitliche Grundlage für eine selbständige gesellschaftliche Lebensführung und Emanzipation, ohne oder mit Kindern. Die Nötigung zur ökonomischen Zwangspartnerschaft entfiele. Die Besserstellung der Frauen im Beruf ist also Voraussetzung für eine Verbesserung der Entwicklungsbedingungen für die Kinder. Und das sollte zu einer ausgewogenen privaten Arbeitsteilung von Männern und Frauen im Haushalt, sowie bei der Kinderver- und Umsorgung führen.
Kurze Vollzeit ist daher auch eine dringende Notwendigkeit für die gesellschaftliche Entwicklung der sozialen Reproduktion. Dies auch zur praktischen Motivation werden zu lassen, das ist die Aufgabe eines politischen Projektes zur Arbeitszeitverkürzung.
·         Bremsung der Umsetzung von Produktivitätsfortschritten in zusätzlichen Lohn für zusätzlichen Konsum, also in zusätzliche Produkte, mit zusätzlichem Durchsatz von Stoffen und Energien.
·         Stattdessen: Gewinnung von Zeit für die Besorgung der persönlichen Erfordernisse, für Muße, Genuß und Selbstentfaltung.
·         Stärkung der ökologischen Orientierung der Produktions- und Arbeitsprozesse in der Gesellschaft!
·         Zurückdrängung der Armut und Stopp der Verarmung;
·         Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung durch Abbau von Stress, Angst und Überarbeitung bei allen Lohnarbeitern und daher auch bei Klienten und Personal der Gesundheitsdienste; Verringerung der Unfallhäufigkeit;

II  Zu den theoretischen Überlegungen

Woher kommt die Arbeitslosigkeit? 

Diese Frage muss in zwei andere Fragen übersetzt werden:
- wie kommt es zur Nachfrage und Beschäftigung von Lohnarbeit in der kap. Produktionsweise?
- woher kommt das Angebot an Lohnarbeitskräften in der historischen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaften?

a) Nachfrage des Kapitals nach Lohnarbeitern und ihre Beschäftigung

Die kapitalistische industrielle Produktionsweise hat zwei zunächst gegenläufige Tendenzen. Zum einen erspart sie durch Technisierung der Produktion und später auch der Produkte die für eine gegebene Menge an Produkten erforderliche Arbeitszeit. Bei gegebener Menge der Produkte bedeutet dies, dass die vorhandenen Arbeitskräfte kürzer arbeiten können oder dass einzelne Arbeitskräfte überflüssig werden.
Zum anderen weiten die Besitzer des Produktionskapitals bei seiner Verwertung unter Konkurrenz das Feld der industriellen Produktion aus: Sie vergrößern vorhandene Fabriken und gründen neue, ersetzen mit billigeren oder Ersatz-Produkten die alten traditionellen Produktionsweisen, oder lassen damit neue Produkte auf Basis neuer Produktionsverfahren herstellen. Dafür können sie die Arbeitszeiten der vorhandenen Arbeitskräfte begrenzt verlängern, tendenziell müssen sie aber neue Arbeitskräfte einstellen.
Das Verhältnis der Einsparung von Arbeitskräften und der Ausdehnung ihrer Zahl beim industriellen Kapital ist einerseits bedingt durch die Schnelligkeit und Tiefe der technischen Umstellungen - und andererseits durch die Ausdehnung der industriellen Produktionsweise innerhalb von jeweiligen Wirtschaftsgebieten.
Die Schnelligkeit der technischen Erneuerung und dabei die Änderung seiner inneren Zusammensetzung (das Verhältnis von lebendiger Arbeit zu Maschinen und Anlagen und den darin eingebauten Anwendungen von Wissenschaften) – aber auch die Schnelligkeit der Ausdehnung der industriellen Produktionsanlagen hängen von jeweils unterschiedlichen historischen Umständen ab. Beide gegenläufigen Tendenzen sind die verschiedenen Seiten der Akkumulation der einzelnen Kapitale.
Ein Wirtschaftsgebiet mit seinen Produktionsstandorten ist gleichzeitig der Lebensraum der Arbeitskräfte und daher ein Absatzmarkt für die hier basierten und auch die auswärtigen Konsumgüterindustrien. Ähnliches gilt für die Rohstoff- und die Investitionsgüterindustrien. Die Gesamtheit dieser von den einzelnen Kapitalen erzeugten Umstände bildet - zurückwirkend - wiederum die ökonomische Umwelt für die einzelnen Kapitale in den jeweiligen Wirtschaftsgebieten und Staaten.
So kann es kommen, dass die laufende Einsparung von Arbeitskräften in den schon etablierten Produktionen - von der Zunahme von Arbeitskräften bei der Ausdehnung und Neueinrichtung von anderen Produktionen wieder aufgewogen oder zeitweilig sogar überholt wird. Das ist typisch für sich schnell und nachholend industrialisierende Gesellschaften und die Einführung tief greifender neuer Produktlinien oder Infrastruktureinrichtungen (z.B. Eisenbahnen, Energieversorgungsnetze, usw.). Umgekehrt kann die laufende Einsparung von Arbeitskräften durch Technisierung und durch den Import von billigeren Produktionen aus dem Ausland die Neueinstellungen in neuen Produktionen oder Dienstleistungen übersteigen, selbst wenn eine große Exportproduktion für Industrieerzeugnisse existiert.
Letzteres ist seit 1975 in der BRD der Fall und allgemein bei den entwickelten kap. Ländern - in den USA schon etwa 10 Jahren früher mit der Einrichtung von Billigproduktionen zunächst in Mexiko und der Karibik.

b) Woher kommt das Angebot an Lohnarbeitern?

Da kapitalistische Fabriken und Unternehmen immer in einem bestimmten historischen Milieu entstehen und existieren, speist sich das Potential an Lohnarbeitskräften aus Freisetzungen aus älteren Produktionsweisen und -zweigen, aus Zuwanderungen und dann hauptsächlich aus der Reproduktion der schon in kapitalistischen Verhältnissen lebenden Lohnarbeiter.
Letztlich ist damit das Angebot an Lohnarbeitern abhängig vom Umfang der Lohnarbeit, relativ zur gesamten Erwerbstätigkeit, und von deren Reproduktionsrate – d.h. vom Verhältnis ihrer Geburten- zu ihrer Überlebensrate.
Zur Illustration sei an das historische Beispiel in England erinnert, das wir von Marx aus dem I Band des „Kapital“ kennen. Zunächst sind da die „Überflüssigen“ aus der Kapitalisierung der Landwirtschaft; dann aus den durch Spinn- und Webfabriken auskonkurrierten, bisher für Verlage produzierenden ländlichen Heimarbeitern. Für die verelendeten Familien aus beiden Quellen war es überlebensnotwendig, dass die Frauen ihre Arbeitskraft ebenfalls in die Lohnarbeit an die Fabriken verkaufen konnten und die Kinder gleich mitgeliefert wurden. Dazu kam die Zuwanderung aus Irland.
Alle drei Quellen des Angebots an Lohnarbeitern sind historisch unterschiedlich. Sie sind sowohl direkt, als auch vermittelt oder gar nicht von der Akkumulation des inländischen Kapitals abhängig. Sie ändern sich und damit auch ihre Summe.
Die jeweiligen Zahlen der eingestellten (abhängig von Reproduktion und Akkumulation des Kapitals) und der potentiellen Arbeitskräfte (abhängig von Reproduktionsrate und Migration) sind beides konstanten Größen. Außerdem dauern die geforderten Qualifizierungen (und sei es nur die Fabrikdisziplin) einige Zeit und sind kostenträchtig. Es gibt also kein automatisches gesellschaftliches und historisches „Gleichgewicht“ zwischen den beiden von der Kapitalakkumulation in Gang gesetzten Tendenzen der Einsparung und der Ausdehnung von gesellschaftlich geforderter Arbeitszeit und daher des Arbeitskraftbedarfs.

c) Beim Export haben wir es ebenfalls mit zwei gegenläufigen Entwicklungen zu tun:

·         Der zunehmenden Fähigkeit von zunehmend mehr Ländern mit zunehmend mehr Lohnarbeitern (Südeuropa, Mittelmeeranrainer, Osteuropa; Japan, Südkorea, Taiwan, China, Thailand, Philippinen, Indonesien, Indien, usw.) relativ einfache Teile der bisherigen Inlandsproduktion der entwickelten kap. Industrieländer, etwa der BRD, für den Export auf die Weltmärkte (einschließlich des Inlandsbedarfs) mit geringeren Löhnen und sonstigen Kosten zu übernehmen.
·         Die sich ergebenden Industrialisierungsprozesse in diesen Ländern (früher in Japan, Südkorea und Taiwan, heute in Brasilien, China usw.), treiben mit den Produktionsfähigkeiten auch das Lebensniveau und damit die Löhne so nach oben, dass der Konkurrenzvorteil durch geringe Löhne nach und nach entfällt. Wenn allerdings die Industrien erst einmal ausgewandert sind, dann kommen sie in der Regel, auch bei ähnlichen Arbeitskosten, nicht mehr zurück – bleibende De-Industrialisierung ist die Folge: wie in England, in großen Teilen der USA und bei einigen Industrien in der BRD (Kameras, Ferngläser, HiFi-Ausrüstungen, Radio- und Fernsehgeräte, Büromaschinen aller Art, Computer, Telefone, Handys etc.; einfache Schiffe, Krane etc., einfache Walzerzeugnisse).
·         Für die BRD-Ausrüstungsindustrie ergibt sich andererseits nicht nur das Geschäft mit dem Neuverkauf von Maschinen und dem Neubau von ganzen Produktionsanlagen und –komplexen, sondern auch dasjenige mit dem laufenden Service und der späteren laufenden Erneuerungen – und dieses Feld dehnt sich mit der Industrialisierung in der Welt ebenfalls aus. Allerdings kann das Riesenland China mit dem politisch gesteuerten gezielten Prozess des technologischen Aufholens in mittlerer Frist durchaus auch das Niveau und die Differenzierungen der BRD-Ausrüstungsindustrie erreichen.
Diese Prozesse der Weltmarktkonkurrenz, der Weltmarktintegration und darin der nachholenden Industrialisierung sind weiterhin und zunehmend wirksam. Bisher und absehbar führen die gegenläufigen Tendenzen zu einem seit Jahrzehnten sich verringernden Bedarf an industriellen Arbeitskräften.

III  Strategische Überlegungen

Bei den Überlegungen zur Durchsetzung einer Arbeitszeitverkürzung sind sehr unterschiedliche Seiten des Problems zu betrachten: zeitliche Form; Bestimmungsart, Länge; Regelungsart; objektive Interessen von Gruppen; Hebel der Durchsetzung:
-          die zeitliche Form: täglich, wöchentlich, jährlich, nach Lebensverlauf, oder nach individuellen Bedarfen, Maß und Art einer Flexibilisierung;
-          die absolute Größe der Verkürzung z. B. 1 oder 2 Stunden pro Tag, 5 oder 10 Stunden pro Woche;
-          die zeitliche Streckung: in Jahresschritten oder in zwei großen Schüben;
-          die Bestimmungsart: nach individueller Wahl oder aufgrund kollektiver Regelungen;
-          die Art der kollektiven Regelung: per Tarifverträgen oder per Arbeitszeit-Gesetz;
-          die möglichen Hebel für die Durchsetzung:
Streiks in Gewerben und Tarifgebieten,–
oder politische Kampagnen für ein Gesetz und eine Mehrheit im Parlament, mit entsprechendem Druck;
-          Gruppen mit objektivem Interesse an Arbeitszeitverkürzung;
-          Interesse an bestimmten Formen und Inhalten;
-          Subjektivierung der objektiven Interessen und Handhaben für ihre Durchsetzung;
-          Notwendigkeit der Sicherung der bestehenden Lohnhöhe der Beschäftigten als Sicherung des Lebensstandards ;
-          Notwendigkeit der Sicherung gegen Verdichtung und Intensivierung der Arbeit;
-          Notwendigkeit der Sicherung eines Mindestlebensstandards durch einen gesetzlichen Mindestlohn;
Alle Momente müssen unter den Gesichtspunkten ihrer ökonomischen und sozialen Wirkungen einerseits, sowie der Mobilisierbarkeit und Entwicklung von gesellschaftlich-politischer Kraft andererseits betrachtet werden.

Form, Größenordnung und Kontrollen einer Arbeitszeitverkürzung

Eine ökonomisch relevante Größenordnung der Umverteilung und Verkürzung von Arbeitszeit, die Aufsaugung der Arbeitslosigkeit und eine drastische Verbesserung der Lohnquote, können nur mit einer kollektiven Regelung für alle, mit einem neuen Arbeitszeitstandard erreicht werden. Eine individuelle Flexibilisierung könnte dann zusätzlich zur kollektiven Regelung stattfinden.
Eine für die kollektiv beeinflusste Lebensführung aller Lohnarbeiter relevante Größenordnung und normative Kraft im Alltag kann nur über eine Regelung erreicht werden, die durchgreifend, öffentlich sichtbar und sozial verpflichtend für alle ist: Das war, und ist z.T. immer noch, mit den bisherigen Regelungen der Fall: Sonntag und Samstag und Mittwoch nachmittags ohne Produktion, Dienstleistungen und Verwaltung, Ladenschluß bei 18 Uhr. Aber die normative Kraft war begrenzt. Verkehr und andere Dienstleistungen waren und sind davon ausgenommen, beim Einzelhandel wurden sogar die bisherigen Grenzen des Ladenschlusses geschleift. Die Einrichtung eines zusätzlichen freien Tagesanteils, etwa Freitags Nachmittag oder eines ganzen Tages, würde die gegebene Aufteilung der Lohnarbeiter entlang ihrer Arbeitszeitregelung eher noch ausdehnen und verschärfen.
Dass alle Lohnabhängigen gemeinsam von einer neuen Regelung profitieren, kann nur durch eine kräftige tägliche Verkürzung zu einem neuen Normalarbeitstag erreicht werden: 6 Stunden-Tag für alle! (30 Stunden pro Woche; also eine sehr große Verkürzung nicht erst als langfristiges Ziel; zwei Mannschaften für zwei verkürzte Nachtschichten!)
Für die Absicherung gegen eine Verdichtung der Arbeit und für die Einstellung der Arbeitslosen ist eine kurzfristige Umstellungs- und Durchsetzungsphase unabdingbar: Denn beides kann nur über zusätzliche und spezifische Kontrollen und Sanktionen in den Betrieben und Unternehmen durchgesetzt werden. Diese müssen die kleinteiligen betrieblichen und unternehmensinternen, höchst wirksamen Rationalisierungsvorgänge für eine Übergangszeit eindämmen. Solche konzentrierten, flächendeckenden praktischen Kontrollen sind nur kurzfristig als Ausnahmeregelungen aufrecht zu erhalten.

Form und Durchsetzung

Eine Durchsetzung über den Hebel der geltenden Manteltarifverträge kommt nicht in Betracht. Diese beziehen sich auf die Besonderheiten der Branchen und nicht auf das Gemeinsame aller Branchen. Für einen gesamtwirtschaftlichen Manteltarifvertrag stünde der DGB als Tarifpartei zur Verfügung. Die Arbeitgeber würden aber wohl mit Obstruktion antworten, was auch mit einem flächendeckenden Erzwingungsstreik nicht verhindert werden könnte.
Es bleibt also als Form der Durchsetzung nur ein Gesetz übrig. Darin und in seinen Umsetzungsverordnungen könnten die Übergangsregelungen und Kontrollen detailliert festgelegt und mit strafrechtlichen Sanktionen belegt werden. Daher dürfte man die Ausarbeitung der Verordnungen nicht der Ministerialbürokratie und ihren Verhandlungen mit den Arbeitgeberverbänden überlassen.
Der richtige und notwendige politische Weg ist daher ein Gesetz (eine Arbeitszeit-Charta). Dafür ist eine langfristig angelegte politische Kampagne erforderlich, zur Meinungs- und politischen Lagerbildung und für entsprechende Wahlentscheidungen der Lohnabhängigen.
Zentral für ein solches Gesetz wäre die Beibehaltung der bisherigen Lohnzahlung als Garantie für den Lebensstandard: Der Lohn als Entgelt für die Verfügbarkeit der Arbeitskraft im neuen Normalarbeitstag – und nicht für eine bestimmte individuelle Arbeitsleistung, ob mit oder ohne Zeitangabe.
Das würde unmittelbar eine Veränderung bei der Aneignung der Wertschöpfung herbeiführen („Verteilung“ zwischen Kapital und Arbeit) – eine Reduktion der Kapitaleinkommen und der Renditen und damit eine Erhöhung der Lohnquote.

Interessenlagen - Gegner

Daher werden nicht nur die Unternehmer und Aktienbesitzer sondern alle Bezieher von Kapitaleinkommen erbittert Widerstand leisten. Die höheren und besser bezahlten Angestellten, die ein kleines Vermögen angespart haben oder dies erhoffen, die allzeit bereit sind für ihren weiteren Aufstieg unbezahlte Mehrarbeit, meist auf Kosten ihrer Gesundheit und ihrer Familien zu leisten, gehören daher mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls zu den Gegnern.
Ein besonderes Problem stellen die kleinen Praxen, Büros und Werkstätten der Selbstständigen und der kleinen Betriebe dar, mit bis zu fünf, 10 oder auch 20 Lohnabhängigen. Da kann es leicht geschehen, dass Abhängige gemeinsam mit ihren Chefs gegen eine solche Initiative auftreten und eine Umsetzung boykottieren. Hier finden sich nicht nur die rund 4 Millionen Selbständigen und Gewerbetreibenden, sondern auch ihr etliche weitere Millionen zählendes Personal. Bei diesen „Arbeitgebern“ handelt es sich um in die Breite der Gesellschaft wirkende Meinungsführer und Multiplikatoren in der Praxis.
Die Selbständigen ohne Lohnabhängige bilden ein weiteres Problem. Sie haben schon jetzt keine übergreifende Arbeitszeitregelung. Ein Teil war bisher über die gesetzlichen Öffnungszeiten von Ladenlokalen etwas gebunden. Insgesamt haben sie keine absehbaren Vorteile von einer Verkürzung der Arbeitszeit.

Interessenlagen - Befürworter

Die Lohnarbeiter mit erzwungener Teilzeitarbeit gehören ebenso wie die Arbeitslosen zu den Hauptinteressenten für eine Arbeitsumverteilung.
Aber für die Durchsetzung einer Arbeitszeitverkürzung und damit einhergehenden Arbeitsumverteilung ist natürlich die Mehrheit der beschäftigten Lohnarbeiter zentral.
Bei ihnen muß die Werbung fruchten – sie müssen das zu ihrer eigenen Angelegenheit machen. Es geht also z.B. in der Metallindustrie auch um all jene, die schon tariflich nahe der 35-Stunden-Woche angekommen sind. Eventuell arbeiten sie praktisch rund 40 Stunden (einschließlich Überstunden), wie die meisten anderen in tariflicher Normalarbeitszeit Beschäftigten und dies bei einigermaßen gesicherten Arbeitsverhältnissen und eher mittlerem Verdienst.
Sie alle sehen bisher keinen Grund, dies durch eine komplizierte neue Regelung in Frage stellen zu lassen:
Daher muß die Absicherung ihrer Besitzstände, die Auflösung ihrer Besorgnisse, vor allem aber die Ausmalung ihrer künftigen besseren Lebensverhältnisse in das Zentrum einer Kampagne rücken – und nicht der Appell an ihr Erbarmen mit den Arbeitslosen und den Teilzeitlern.

Praktikabilität und Kontrollen

Eine praktikable Regelung der Einstellung zusätzlicher Arbeitskräfte für die verkürzte individuelle Arbeitszeit der bisherigen Betriebsangehörigen ist für die gesellschaftsweite Toleranz und Unterstützung Kampagne unabdingbar.
Unter anderem müssten die Betriebsräte, aber auch die Gewerbeämter und Unfallversicherungsorgane mit besonderen Kontrollbefugnissen ausgestattet werden. Bei der überbetrieblichen Interessenvertretung müsste den Gewerkschaften eine besondere Rolle eingeräumt werden. Wahrscheinlich wäre die zeitweilige Einrichtung einer Art Schiedsgericht aller Beteiligten erforderlich, das unmittelbar ohne Fristen und Instanzenweg aktuelle Streitfragen sofort entscheidet, um Verschleppungen durch Verfahren zu verhindern.
Es gibt sehr viele Arbeitsverhältnisse mit völlig unzureichenden Löhnen. Dort sind die Versuchung und der Zwang Überstunden zu machen, um den Lohn aufzubessern, sehr groß. Dem kann nur durch einen gesetzlichen Mindestlohn begegnet werden, der gleichzeitig mit der Verkürzung eingeführt und ebenso durchgesetzt und kontrolliert wird.

 

IV Politisch-praktische Überlegungen

Subjektivierung von objektiven Interessen und von Zukunftsszenarien 

Die Ziele eines Projektes von Arbeitszeitverkürzung bestehen erstens in einem besseren Leben mit weniger Arbeit und zweitens in der Befreiung von bisherigem Ungemach. Beide, in dieser Reihenfolge, muß in der Werbung als zentrale Ziele und in der Durchsetzung zum bewegenden Motiv werden.
In vielen Bereichen gibt es eine „Kultur“ der Leistung auch bei den Beschäftigten. Das sollte aufgegriffen werden: Aus der Verantwortung für die Arbeitsergebnisse und für die Aufrechterhaltung der eigenen dauerhaften Leistungsfähigkeit kann ein starkes Motiv für die Arbeitszeitverkürzung entstehen – gegen Überforderung und Selbstausbeutung.

Organisierungen und Organisationen

Bisher gibt es keine Organisation von Lohnabhängigen, die die Arbeitszeitfrage ins Zentrum ihrer Tätigkeit gestellt hat.
In den Manteltarifen sind die Gewerkschaften direkt mit den Arbeitszeiten befasst. Zwar hat Verdi einen eigenen ArbeitsberIeich für die Arbeitszeitverkürzung eingerichtet und diese leistet Hervorragendes – aber über Nebenforderungen sind Arbeitszeitfragen in Tarifforderungen bisher nicht hinaus gekommen. Von einer Konzeption der Veränderung der gesellschaftlichen Arbeitsorganisation und Arbeitsteilung mittels Arbeitszeitverkürzung sind sie anscheinend alle weit entfernt.
Gleichwohl sind die Gewerkschaften natürlich die wichtigsten Organisationen, deren Mitglieder, ehrenamtliche Funktionäre und Führungen für ein solches Projekt gewonnen werden müssen. Ihre Fähigkeit zur Interessenformulierung und ihre organisierende Kraft sind bei der Entwicklung von Aktivitäten letztlich unverzichtbar.
Allerdings sind von den 20 Millionen Angestellten aller Bereiche nur wenige Prozent organisiert und nur Teile davon haben zumindest gewerkschaftliches Bewusstsein.
Die Sozialorganisationen müssten für ihre Beschäftigten im Pflege- und Krankenbereich ein Interesse für kürzere Arbeitszeiten entwickeln. Dem steht die Knappheit der Mittel entgegen. Daher ist die Zusicherung einer besseren Finanzierung unabdingbar für deren Unterstützung. Das wiederum steht in keinem direkten Zusammenhang mit einer Arbeitszeitverkürzung, sondern hängt mit der Primärverteilung der Einkommen und der stärkeren Besteuerung von Kapitaleinkommen ab. Ein Programm der Ausweitung der Einnahmen der öffentlichen Hände wäre als politische Einbettung des Projektes notwendig und hilfreich.
Sozialverbände und Kirchen wären als Vertreter allgemeiner Humanisierungsvorstellungen wohl ebenfalls für ein Projekt zur Arbeitszeitverkürzung und der Arbeitsumverteilung zu gewinnen:
-          zur Entlastung von Alltagsstress und mehr verfügbarer Zeit, für ihre Klientel und die Allgemeinheit;
-          zur Eindämmung der Verarmung durch Arbeitslosigkeit und Niedriglöhne;
-          Für eine Entkommerzialisierung der allgemeinen Lebensverhältnisse.
Die Verbände von Eltern, Lehrern, für Kultur und Sport wären wohl ebenfalls für eine Begrenzung der Arbeitszeit und Arbeitsbelastung sowie die Vergrößerung der frei verfügbaren Zeit zu gewinnen.
Die Aufzählung könnte fortgesetzt werden.

Zeithorizonte von Forderung und Umsetzung

Die ökonomische und organisatorische Umsetzung von Arbeitszeitverkürzungen sollte man vorläufig mit jeweils einem Jahr für die erste Etappe von 40 auf 35 Stunden und für die zweite von 35 auf 30 Stunden ansetzen. Ein Jahr Pause dazwischen für Nacharbeiten und Konsolidierung wäre wohl das Mindeste.
Bevor ein solches Projekt zu einer auch öffentlich wahrgenommenen Kampagne werden kann, bedürfte es einer breiten und intensiven Information der Aktivisten und Organisationen und ihrer Vernetzung. Das erfordert ganz sicher mehr als nur ein Jahr. Danach stünde die langwierige Überzeugungsarbeit der bisher passiven Hauptadressaten an, und erst dann eine Entfaltung von politischem Druck durch öffentliche Aktivitäten. Für das alles ist die erforderliche Zeit von heute aus nicht zu kalkulieren. Aber wie die Entscheidungen bei der Atomkraft und bei den Bankenrettungen zeigen, kann es mitunter rasend schnell gehen. Das hängt von der relativen Stärke der Bewegung und der Wahrnehmung der Bourgeoisie und ihrer Trabanten über eine Gefährdung ihrer Interessen ab. Der Kern der Frage ist also die Entwicklung der Selbstbewegung.
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